Gesundheit: Singen heilt
Aus der Zeitschrift "Psychologie Heute" 01/07 Von Wolfgang Bossinger erschienen in der Januar Ausgabe 2007 der Zeitschrift "Psychologie Heute" Viele Menschen halten sich für unmusikalisch und überlassen das Singen vermeintlichen Profis. Dabei fördert es unsere körperliche und seelische Gesundheit - ganz gleich, ob wir im Chor singen oder alleine unter der Dusche
„Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist", schrieb der französische Dichter Victor Hugo. In besonderem Maße lässt sich diese Erkenntnis auch auf das Singen anwenden. Die Stimme ist sozusagen das „Urinstrument", welches uns von Geburt an zu Eigen ist und mit dem wir bereits als Baby durch Wimmern, Lallen, Juchzen, Schreien und weitere „musikalische Variationen" unsere Befindlichkeit kommunizieren. Dabei handelt es sich bei diesen frühen Vokalisationen Neugeborener eigentlich um ein musikalisches „Duettieren" mit ihren Bezugspersonen mittels Klangfarbe, Tonhöhe, Intensität oder melodischen Konturen.
Der Psychoanalytiker und Säuglingsforscher Daniel Stern konnte zeigen, dass dieser „Babytalk", dieser Singsang zwischen Mutter und Kind einer komplexen Choreografie, einem fein aufeinander abgestimmten Spiel zweier improvisierender Musiker gleicht. Das Gelingen dieses frühen Dialogs zwischen Mutter oder Vater und Kind trägt wesentlich zur Ausbildung und Entwicklung der Persönlichkeit und zur Regulation von Emotionen und Affekten beim Kind bei. Ein Mangel an solcher lebenswichtiger Kommunikation kann verheerende Auswirkungen haben.
Der Dialog beginnt bereits vor der Geburt. Der mütterliche Herzschlag und die Anregung durch ihre Stimme vermitteln dem Fetus ein Gefühl von Geborgenheit und Urvertrauen. Der Klang der Stimme wird über die Knochen zum Becken geleitet, adas wie ein großer Lautsprecher wirkt, inmitten dessen sich die Gebärmutter und das Kind befinden. Von außen hingegen werden besonders tiefe Stimmen gut in den Mutterleib übertragen - fast so, als hätte die Natur es so vorgesehen, dass die sonore Bassstimme des Vaters oder Großvaters besonders deutlich von dem Kind wahrgenommen werden kann.
Wie neuere Forschungen zeigen, scheint allerdings besonders die Singstimme der Mutter ein Lebenselixier für das heranreifende Kind zu sein. Bei frühgeborenen Kindern zeigt sich diese Wirkung des Singens besonders deutlich. Der mütterliche Gesang lässt vermehrt Sauerstoff durch die Hirnzellen des „Frühchens" zirkulieren, die Her7Kreislauf-Funktionen werden stabilisiert, und die neuronale Vernetzung im Gehirn wird angeregt. Weiterhin entwickeln sich die Frühchen schneller und legen an Gewicht zu. Musiktherapeuten, die in Kliniken mit frühgeborenen Kindern arbeiten, ermutigen daher die Mütter, für ihre Kinder zu singen.
Doch Singen ist nicht nur für Eltern und ihre Kinder wichtig. Gesang hat eine nahezu universelle Verbreitung in allen Kulturen. Es gibt eine Vielzahl von Traditionen und Bräuchen, in denen Gesang und Lieder dazu dienen, seelisches Erleben und Empfinden miteinander zu teilen. Das reicht von den weltweit verbreiteten Wiegenliedern, mit denen Babys beruhigt und in den Schlaf gesungen werden, über Arbeitsgesänge und Liebeslieder bis zu Klagegesängen über den Tod von Angehörigen. Diese Gesänge ähneln sich interkulturell so auffallend, dass von einem universellen Phänomen ausgegangen werden kann. Sie sind meist eingebettet in Halt gebende, rahmende Rituale, die es den Trauernden ermöglichen, intensive Gefühlszustände zu durchleben und nicht zu verdrängen. Die Trauernden werden dabei einbezogen in die Gemeinschaft der sozialen Gruppe und im Ausdruck ihrer Gefühle unterstützt.
Ein Beispiel für solch ein Gesangsritual ist die so genannte „Hennanacht" - ein Brauch, der in der Türkei in abgelegenen, ländlichen Gegenden noch verbreitet ist. In dieser Nacht vor der Hochzeit kommen die Braut, die Mutter, Schwestern und weitere Frauen der Familie mit einer erfahrenen Klagesängerin zusammen, stimmen gemeinsam Gesänge an und trauern lautstark. Hierbei geht es um den Schmerz über den Abschied der Braut von der Mutter und der eigenen Familie. Dieses gemeinsame Klagen markiert auch deutlich in Form eines Rituals den Übergang in die neue Lebensphase.
Besonders anschauliche Gesangsrituale finden sich bei Naturvölkern. Wenn bei den Mbutis - einem Pygmäenstamm im Kongo - Streit zwischen Mitgliedern der Gemeinschaft ausbricht, wird ein spezielles Gesangsritual abgehalten: Alle Mbutis müssen dann zusammenkommen und eine ganze Nacht lang miteinander singen, um „Mutter Wald", eine Art weiblichen Waldgeist, wieder zu beruhigen. Bei besonders schweren Verstößen gegen Gruppenregeln können solche Gesänge sogar mehrere Nächte andauern. Bei diesem Ritual dient das gemeinsame Singen dazu, soziale Spannungen in der Gruppe zu regulieren.
Gesang spielt demnach bei vielen Völkern und traditionellen Kulturen eine wichtige Rolle, um Emotionen in der Gemeinschaft auszudrücken und das seelische oder soziale Gleichgewicht wiederherzustellen.
Doch auch für moderne Gesellschaften birgt Singen ein wichtiges soziales und gesundheitsförderndes Potenzial in sich. Eine Fülle von Forschungsarbeiten belegt, dass Gesang die „Chemie" unseres Gehirns und damit unsere Emotionen beeinflussen kann oder regulierend und harmonisierend auf psychische Prozesse wirkt.
Eine der faszinierendsten Studien stammt von Betty Bailey und Jane Davidson. Sie untersuchten, welche Wirkung bei Wohnsitzlosen die Teilnahme an einem Amateurchor hatte. Dieser Homeless Choir (Chor der Wohnsitzlosen) wurde 1996 in Montreal, Kanada gegründet und ging ursprünglich zurück auf die Initiative eines jungen Mannes, der als Helfer in einer Suppenküche für Wohnsitzlose mitarbeitete.
Die Idee hierzu hatte der spätere Chorleiter, als er sich an seine eigene Zeit in einem Chor erinnerte - an seine damaligen Gefühle der Freude und Zufriedenheit. Er erhoffte sich ähnliche positive Auswirkungen auf die Wohnsitzlosen. Bei den Teilnehmern des Chors handelte es sich um Menschen mit massiven emotionalen Problemen, Alkoholismus und Drogenabhängigkeit. Einige litten an schwerwiegenden psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie oder Depressionen. Unter den Chormitgliedern waren die meisten soziale Außenseiter, hatten kaum stabile Beziehungen und lebten auf der Straße.
Bailey führte mit den Chormitgliedern ausführliche Interviews zu den Wirkungen des Singens. Die Ergebnisse waren verblüffend: Viele der Wohnsitzlosen berichteten von einem Rückgang ihres Alkohol- oder Drogenkonsums durch das gemeinsame Singen. Gewalt und Aggression zwischen den Mitgliedern hatten abgenommen, während Empathie und soziale Verhaltensweisen zunahmen. Einige der Chormitglieder hatten zum Zeitpunkt der Untersuchung bereits stabile Beziehungen aufgebaut oder sogar wieder einen festen Wohnsitz oder einen Job gefunden. Sie alle führten diese positiven Veränderungen auf das gemeinsame Singen und die damit verbundene Stärkung ihres Selbstwertgefühls zurück. Die beiden Forscherinnen kamen zu dem Ergebnis, dass die Wirkung des Singens im Chor vergleichbar war mit jener einer erfolgreichen Psychotherapie.
Auch eine Reihe neuerer Studien belegt die positiven psychologischen Effekte des Singens: So befragten etwa Stephen Clift und Grenville Hancox 84 Mitglieder eines Universitätschores. 89 Prozent der Chormitglieder berichteten von intensiven Glücksgefühlen beim Singen, 79 Prozent fühlten sich weniger gestresst. In körperlicher Hinsicht profitierten 58 Prozent der Chormitglieder.
Doch nicht nur Chorsingen wirkt gesundheitsfördernd. Auch das Singen unter der Dusche oder im Auto kann eine Vielzahl heilsamer Wirkungen entfalten. Der Musikpsychologe Karl Adamek verglich in einer groß angelegten Untersuchung„Nichtsänger" mit „Vielsängern". Er fand heraus, dass „engagierte Singer" durchschnittlich lebenszufriedener und ausgeglichener sind, mehr Selbstbewusstsein haben und Emotionen besser bewältigen können als Nichtsänger.
Gesellschaftlich besonders relevant sind diese Erkenntnisse für unsere Schulen und die Musikpädagogik. Musizieren und Singen in Form eines erweiterten Musikunterrichtes fördern nicht nur die Intelligenz der Schüler, sondern auch die soziale Kompetenz und wirken sogar gewaltpräventiv, wie Hans Günther Bastian, Professor für Musikpädagogik, und weitere Wissenschaftler zeigen konnten.
Jüngst präsentierten Karl Adamek und Thomas Blank erstmals auch eindrucksvolle Ergebnisse zur Entwicklungsförderung durch Singen bei Kindern im Vorschulalter. In ihrer Studie „Singen in der Kindheit" haben sie festgestellt, dass Singen die Entwicklung hin zur Schultauglichkeit fördert: Kinder, die viel singen, bestehen deutlich häufiger den Schultauglichkeitstest im Vergleich zu Kindern, die wenig singen. Darüber hinaus zeigen sie eine bessere Entwicklung von Sprache, Denken und Koordination. Auch die emotionale Intelligenz war bei Kindern, die viel singen, stärker ausgeprägt. Erstaunlicherweise reagieren Politiker und Verantwortliche aus der Pädagogik bisher nur zögerlich auf diese eindrucksvollen Möglichkeiten, Singen und Musizieren zur Förderung von Vorschulkindern und Schülern zu nutzen.
Doch Gesang berührt nicht nur unsere Seele und unseren Intellekt - Singen wirkt in heilsamer Form auch tief hinein in körperliche Prozesse.
Neuere Forschungen der Chronomedizin ergaben, dass Körperrhythmen durch musikalische Schwingungen und besonders durch Gesang und Rezitation beeinflussbar sind. Die in der Musik und im Gesang enthaltenen Zeitmuster sind in der Lage, tiefgreifende Resonanzphänomene im Körper auszulösen und blockierte Rhythmen wieder in Gang zu bringen. Der Chronomediziner Professor Maximilian Moser von der Universität Graz wies durch hochempfindliche Messungen des Herzrhythmus nach, dass sich diese Wirkungen auf das gesamte rhythmische System des Körpers ausbreiten und regulierend auf den wichtigsten Erholungsrhythmus, den Schlafrhythmus einwirken (siehe auch Heft 7/2005: Lebensrhythmen - Gesundes Schwingen).
Singen baut Stresshormone ab und schüttet Glückshormone aus
Eine Schlüsselrolle für die gesundheitsfördernde Synchronisierung von Körperrhythmen scheint vor allem die Veränderung des Atemrhythmus, etwa durch Singen oder Rezitation, zu spielen. Therapeutisch lassen sich solche Ansätze nutzen, um das Gleichgewicht im Körper wiederherzustellen, indem beispielsweise ein gesunder Schlafrhythmus gefördert wird oder Stresssyndrome bewältigt werden. Im Rahmen musiktherapeutischer Ansätze lernen die Klienten, in Verbindung mit Biofeedback sich durch Singen zu entspannen, und sie können dabei visuell unmittelbar die Wirkungen auf das vegetative Nervensystem und die Herzfrequenz beobachten.
Singen beeinflusst auch unsere Gehirnchemie und unsere hormonellen Kreisläufe. So kommt es bereits nach etwa 20 bis 30 Minuten des Singens zu einer Reduktion des Stresshormons Adrenalin und zur Produktion eines regelrechten „Glückscocktails", der unter anderem die Botenstoffe Betaendorphin, Serotonin, und Noradrenalin enthält, wie der österreichische Musik- und Kommunikationspsychologe Thomas Biegl in einer Studie an der Universität Wien nachweisen konnte. Aus einem pharmakologischen Blickwinkel betrachtet, produzieren singende Menschen also ihre eigenen Antidepressiva - allerdings ohne Nebenwirkungen.
Ein vielen Sängern vertrautes Phänomen ist die Gänsehaut beim Singen. In einer von mir durchgeführten Befragung mit 26 Teilnehmern verspürte ein Viertel während eines anderthalbstündigen Singens ein oder mehrmals eine Gänsehaut. Elf Teilnehmer fühlten einen Schauer den Rücken herunterrieseln. Dieser „Hautorgasmus" tritt meist dann auf, wenn uns bestimmte musikalische Stellen besonders berühren. Es handelt sich um eine „Thrillerfahrung", die unser Gehirn auf Trab bringt.
Die beiden Gehirnforscher Anne Blood und Robert Zatorre konnten mit einem bildgebenden Verfahren nachweisen, dass bei dem durch die Musikerfahrung ausgelösten „Gänsehauterleben" dieselben neuronalen Systeme aktiviert werden, die sonst nur auf Stimuli wie Sex, Schokolade und Rauschdrogen reagieren. Bei dem musikalischen „Hautorgasmus" wird somit das gehirneigene Belohnungssystem aktiviert, das den Neurotransmitter Dopamin und körpereigene Opiate ausschüttet. Gleichzeitig kommt es zu einer Hemmung der Aktivierung in Hirnzentren, welche mit Angsterleben und unangenehmen Erfahrungen in Verbindung stehen (Mandelkerne beidseits und ventromedialer präfrontaler Kortex). Mit anderen Worten: Die Gänsehaut beim Singen macht Lust und Laune und dämpft die Angst und negative Gefühle (siehe auch Heft 5/2006: Musik, die uns berührt).
Jeder Mensch ist musikalisch, jeder kann singen!
Singen stärkt außerdem das Immunsystem durch eine vermehrte Produktion von Immunglobulin A. Robert Beck und seine Mitarbeiter von der University of California fanden bei 32 Mitgliedern des Pacific Choral-Chores in Speichelproben nach der Aufführung der Missa Solemnis von Beethoven einen Anstieg von Immunglobulin A um 240 Prozent. Immunglobulin A ist ein Antikörper, der an allen Schleimhäuten des Körpers sitzt und Krankheitserreger und Allergene beim Eindringen in den Körper unschädlich macht.
Weitere günstige Auswirkungen des Singens zeigen sich in einer vertieften Atmung und damit besseren Sauerstoffversorgung des Organismus und in einer Erhöhung der Herz-Kreislauf-Fitness - intensives regelmäßiges Singen kann daher als eine Art „inneres Jogging" betrachtet werden.
Angesichts all dieser gesundheitsfördernden und heilsamen Wirkungen mag man sich fragen, warum viele Menschen so selten ihre Stimme erheben, um ein Lied anzustimmen. Leider hat in unseren hochtechnisierten Gesellschaften ein Prozess eingesetzt, in dem Musik fast ausschließlich mit Perfektion, Kunst und Leistung in Verbindung gebracht wird. Musik wird von den meisten Menschen eher als Sache der Profis verstanden. Sie wird zwar sehr geliebt, aber eben passiv konsumiert. Dabei war Musizieren über den größten Teil der Geschichte der Menschheit ein gemeinsames soziales Handeln, an dem jeder beteiligt war. Bei Kleinkindern findet sich meist noch diese ursprüngliche Freude am musikalischen Ausdruck, die aber Gefahr läuft zu verkümmern, wenn sie nicht gefördert wird.
Falsch verstandene leistungsorientierte Musikpädagogik (etwa der Zwang zum Vorsingen in der Schule oder Kommentare wie „Du kannst nicht singen") tun ein Übriges, um Menschen zu entmutigen. Der Musikpsychologe Karl Adamek ermittelte in seinen Untersuchungen, dass knapp die Hälfte der Befragten auf irgendeine Weise in ihrem Leben einschüchternde Erfahrungen bezüglich des Singens gemacht hatte.
Tatsächlich ist es jedoch so, dass jeder Mensch musikalisch ist. Die Stimmbänder sind letztlich Muskeln, deren Fitness durch Übung und Wahrnehmung geschult werden kann, wie die Kondition des Körpers durch joggen. Das angebliche „Falschsingen" resultiert oft aus Angespanntsein aufgrund vorausgehender Negativerfahrungen, Leistungsdruck und unverständlicherweise grundsätzlich in zu hoher Tonlage gesetzten Liederbüchern - ungeübte Sänger rutschen dann schnell ab. In fast allen Fällen verschwindet das „Falschsingen", sobald sich die Anspannung löst beziehungsweise eine zur Stimme passende Tonlage gewählt wird.
Erfreulicherweise entwickelt sich in den letzten Jahren wieder eine allmähliche Begeisterung für das Singen - besonders bei Frauen-, wie der Zulauf zu Chören oder die Popularität von Musikfilmen wie Die Kinder des Monsieur Mathieu oder Wie im Himmel zeigt. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das gemeinsame Singen im Familienkreis, mit Kleinkindern und im Alltag erheblich abgenommen hat, während weiterhin CD-Player, Computerspiele und Fernseher in den Kinderzimmern auf dem Vormarsch sind.
Bereits das alltägliche Singen hat jedoch soziale und gesundheitsfördernde Wirkungen, und dabei ist es völlig egal, ob eine Melodie perfekt gesungen wird oder nicht. Wichtig ist vor allem die innere Beteiligung des Sängers - je mehr Freude und Spaß er empfindet, umso stärker ist die positive Wirkung. Es geht beim Singen nicht um Perfektion, sondern um Gemeinschaft, Freude, Verbundenheit und um die eigene Gesundheit.
Wolfgang Bossinger beschäftigt sich seit mehr als 20 Jahren mit der Erforschung des heilenden Potenzials von Musik und Gesang. Er ist Diplommusiktherapeut (FH), Psychotherapeut (HPG) und Autor des Buches Die heilende Kraft des Singens